Der Islam ist die jüngste der großen Weltreligionen. Das gegenwärtige Interesse an dieser Religion begann mit dem Zusammenbruch der Kolonialreiche im Mittleren Osten und in Nordafrika.
Nach der Befreiung aus der kolonialen Abhängigkeit setzte bei den arabischen Völkern und Stämmen der Prozess der Wiederbelebung ihrer eigenen Kultur ein. Unter Führungseliten der Araber, die häufig eine militärische oder universitäre Ausbildung in Frankreich oder Großbritannien genossen hatten, gewann auch der Gedanke an eine einheitliche arabische Nation an Bedeutung. Eine wichtige Klammer dieser Idee war der Islam als gemeinsame Religion. Die panarabische Idee stieß in der politischen Praxis jedoch an Grenzen, die von den einzelnen religiösen Strömungen gesetzt wurden.
Für Europa spielte nach dem 2. Weltkrieg der arabische Großraum als Rohstofflieferant eine gewichtige Rolle. Die USA bekundeten insbesondere Interesse an den bedeutenden Ölvorräten in einigen Ländern des arabischen Wirtschaftsraumes. Mit der zunehmenden Systemauseinandersetzung zwischen Ost und West, zwischen NATO und Warschauer Vertrag, gewannen Kleinasien und Nordafrika auch strategische Bedeutung und weckten damit auch das Interesse der damaligen Sowjetunion.
Aus wirtschaftlichen und ideologischen Interessen heraus knüpfte die damalige DDR im Rahmen der ihr eingeräumten Möglichkeiten und Zugzwängen Kontakte zu Staaten des Mittleren Ostens und Nordafrikas. Besonders die engen ideologischen Beziehungen der SED-Führung zu den arabischen Ländern Libyen, Ägypten und Syrien und Wirtschaftsverflechtungen im Rahmen des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) mit einigen Staaten des Balkans führten dazu, dass der Islam im Osten Deutschlands keine unbekannte Größe mehr war. Im universitären Bereich waren Kontakte zwischen arabischen und deutschen Studenten nichts ungewöhnliches. Trotzdem war der Kontaktumfang im Gegensatz zu heutigen Möglichkeiten sehr bescheiden. Es blieb aber für Religionswissenschaftler der DDR genügend Spielraum, um sich wissenschaftlich mit dem Islam zu befassen und ihre Erkenntnisse zu publizieren. W.Beltz zur Bedeutung des Korans für die damalige Welt des Islam:
"Der Koran ist auch heute noch eine der wichtigsten Klammern, die die Völker der arabischen Halbinsel, Vorderasiens und Nordafrikas mit den Muslimen in Südostasien verbindet. Für sie alle ist der Koran die einzig gültige Offenbahrung ihres Gottes Allah an jeden gläubigen Muslim. Neben seiner relegionsgeschichtlichen Bedeutung aber verdient der Koran als 'Gründungsurkunde der arabischen Nation' ein größeres und weiterreichendes Interesse, als ihm bislang von den einzelnen Disziplinen der Arabistik entgegengebracht wurde." (1)
Für die damalige Systemauseinandersetzung zwischen Ost und West war die Arbeit des Religionswissenschaftlers W. Beltz nicht unwichtig im Rahmen der strategischen Vorstellungen der SED-Führung. Um in ausgewählten arabischen Ländern ideologisch besser Fuß fassen zu können, musste man zweifelsohne Einblicke in die Vorstellungswelt des Islam haben. Es war aber noch eine Vorstellungswelt außerhalb der eigenen Gesellschaft!
Heute finden wir die Vorstellungswelt des Islam inmitten unserer Gesellschaft, innerhalb unseres Gemeinwesens. Sie wird im Gefolge der Flüchtlingswelle aus Ländern des arabischen Kulturraums seit 2015 auch in unserem Kulturraum weiter an Bedeutung gewinnen.
Im Gegensatz zu früheren Jahren müssen nunmehr Kenntnisse der Vorstellungswelt des Islam als Grundlage für die Aufnahme von muslimischen Migranten in bisher unbekannter Größenordnung in das Sozialgefüge unserer modernen bürgerlichen Gesellschaft dienen.
Ohne wissenschaftlich untermauerte Einblicke in die Vorstellungswelt des Islam und ohne Emotionen irgendwelcher Art ist Integration unmöglich. Sie ist sowohl eine Jahrhundertaufgabe als auch eine Zukunftsfrage für Deutschland und Europa.
Integration ist deshalb eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und verlangt große gesellschaftliche Anstrengungen. Die Bildung von Parallelgesellschaften behindert über kurz oder lang die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung und zerstört die Grundlagen der Demokratie in einer aufgeklärten Gesellschaft. Wir sind ein Land, in dem das öffentliche Leben nicht durch religiöse Dogmen gelenkt wird. Im westlichen Teil der Republik sind schon mit Beginn der Anwerbung von „Gastarbeitern“ Religionsaspekte immer mehr in den öffentlichen Raum getreten. Sicher wurde hier und da einmal die Frage debattiert, wie sich bestimmte Glaubensrituale des Islam mit einer emanzipierten Gesellschaft vertragen.
Die Vorstellungswelt des Islam ist aber weitgehend unbekannt geblieben. Man hat den Islam zunächst als Weltreligion wie jede andere zur Kenntnis genommen. Kaum zur Kenntnis genommen wird die Tatsache, dass der Islam historisch einen autoritären Gottesstaat beansprucht! Hinzukommt, dass der Islam keine Vorstellung von einem autonom handelnden, eigenverantwortlichen Individuum kennt, das für die europäischen Gesellschaften prägend ist.
"Im Islam ist es umgekehrt. Ich bin ein 'Makhluq', ein Geschöpf Gottes. Allah steuert mich." (2) So der in Syrien aufgewachsene deutsche Politologe und Islamwissenschaftler Bassam Tibi. Für gläubige Muslime diagnostizierte er eine fatalistische Leistungsmoral. Solche Aussagen über soziokulturelle Besonderheiten sollte man jedoch insbesondere in Deutschland aus historischer Erfahrung heraus mit Vorsicht zur Kenntnis nehmen.
Der Religionswissenschaftler W. Beltz bezeichnete den Islam als einen der wichtigsten Bestandteile der Kultur der arabischen Völker. Seine Entstehung fiel in eine Zeit, als sich die revalisierenden Großreiche von Persien und Byzanz auf das Schärfste bekämpften. Mit dem Islam erfolgte nicht nur eine Erneuerung der religiösen Sitten und Gebräuche, er hatte zugleich von Anfang an eine enorme politische Bedeutung als Sammlungsbewegung der arabischen Stämme. Hier liegt die Einheit von religiöser und politischer Autorität seit Beginn des Islam historisch begründet.
"Bis heute fällt es schwer, zu erklären, dass der Islam keine Religion wie Judentum, Christentum oder Buddhismus ist. Diese Religionen erhielten ihre Prägung durch Kräfte, die sich gegen etablierte gesellschaftliche Formen wandten: das Judentum durch seine sozialkritische Prophetie, das Christentum durch seine Opposition gegen die römische Sklavenhalterordnung und der Buddhismus durch das ewige Dharma, die Kastenordnung des Hinduismus. Der Islam aber trat mit Mohammed an als eine Lehre, die ein Gemeinwesen, einen Staat schuf, der bis dahin nicht existierte. Der Islam war von seinen Anfängen her eine Bewegung radikaler Diesseitigkeit und verstand sich nie als Erscheinungsform einer anderen Welt, zu deren Gunsten man auf diese Welt verzichten müsste,wie Buddha lehrte, oder die es nach dem Gebote Jahwes neu zu gestalten gelte, wie die Propheten des Judentums von ihrem Selbstverständnis als dem einzigen und ausgewählten Volke glaubten. Noch weniger setzte er die Hoffnung auf eine vollendete Welt durch einen wiederkehrenden Messias, wie es die Christen glaubten. Für den Islam gehören Erde und Paradies zusammen zur Welt, gibt es keine Diastase zwischen einem Gottesstaat und einem Weltstaat." (3)
Der Islam kennt also keine Trennung zwischen einem Gottesstaat und einem weltlichen Staat. Höchste religiöse und politische Autorität bilden eine Einheit!
Auch im Christentum wurde lange Zeit die Einheit höchster religiöser und politischer Autorität angestrebt und fand seinen Niederschlag im Papsttum. Während die christlichen Päpste schon gegen Ende des Mittelalters ihre politische Macht verloren, herrscht in der islamischen Theologie bis heute die Vorstellung der Einheit von Kirche und Staat.
In unserer Gesellschaft sind dagegen Staat und Kirche getrennt. Kirchen und Religionsgemeinschaften "entfalten sich bei der Erfüllung ihrer Aufgaben im Rahmen des für alle geltenden Gesetzes frei von staatlichen Eingriffen." (4)
Die für uns heute selbstverständliche Trennung von Kirche und Staat ist Ergebnis der Aufklärung. Dabei darf nicht vergessen werden, dass das Zeitalter der Vernunft und Aufklärung sowohl eine lange Vorgeschichte hatte und andererseits selbst wieder ein zeitraubender Prozess war. Trotzdem haben wir bis heute keine eindeutige Linie zur Frage von Staat und Religion. So fragt H. Buschkowsky berechtigt: "In Religionsangelegenheiten gilt bei uns das Gebot der staatlichen Neutralität. Aber was bedeutet die Floskel von der Neutralität des Staates? Fallen die Kreuze in den Schulen oder in den Gerichtssälen in Bayern nicht darunter?" (5) H. Schmidt zum Zeitalter der Vernunft und Aufklärung:
"Aufklärung meint ... nicht nur die Philosophie, nicht nur Voltaire, Rousseau und Kant, sondern auch alle anderen Wissenschaften, die sich die Befreiung des Menschen aus obrigkeitsstaatlicher und kirchlicher Bevormundung zum Ziel gesetzt haben. Kopernikus und Galilei zählen deshalb ebenso zur europäischen Aufklärung wie Hugo de Groot oder John Locke, Montesquieu, Lessing, die amerikanischen federalist papers oder Darwin. Als ein sich über Jahrhunderte erstrekkender geschichtlicher Prozess, der mal in Holland oder England, mal in Frankreich oder Nordamerika, vorübergehend auch in Preußen und in Österreich seine jeweilige Blüte erlebte, gehört die Aufklärung zu den fundamentalen Erfahrungen der westlichen Kultur.". (6)
Die moderne Demokratie und der Rechtsstaat sind ein Ergebnis der umfangreichen Prozesse der Aufklärung in Europa und Amerika selbst. Die Aufklärung kann anderen Kulturkreisen nicht von außen oktroyiert werden und eine Demokratisierung im westlichen Sinn kann in diesen Staaten nur selbst von innen heraus erfolgen.
In ihrer großen Mehrheit haben die Schriftgelehrten des Islam bis heute an ihren Lehrtraditionen festgehalten. Bisher hat die Aufklärung den Islam kaum irgendwo erreicht.
Religionen, die die Trennung von Staat und Kirche nicht kennen, sind vom Staat die Grenzen der vom Grundgesetz garantierten Religionsfreiheit aufzuzeigen. Die Grenzen haben mit der Einsicht zu tun, dass religiöse Gebote nicht ohne Weiteres die politische Ordnung bestimmen dürfen und an die Achtung der Menschenrechte gebunden sind.
Religionsfreiheit bedeutet nicht, dass die Religion über den Normen der Gesellschaft steht, sie die Definition der Freiheit ist oder sie gar die Normen oktroyiert, sondern heißt, dass jeder die Religion, die für ihn das Heil bedeutet, ohne Angst vor staatlicher Repression oder Einmischung ausüben kann.
Bezüglich des Islam, der als Weltreligion neben dem Christentum und Judentum nach historisch mehrmaligen Anläufen nun ebenfalls in Deutschland Fuß gefasst hat, gilt:
Keine Sonderverbote, aber auch keine Sonderrechte für den Islam. Versuche einiger Islamverbände Sonderrechte zu erlangen und zu begründen, lassen sich immer wieder erkennen. Damit stellt sich immer wieder die Frage nach der Tauglichkeit des deutschen
Integrationsmodells.
In der Textausgabe des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland von 2002 ist im Geleitwort des Bundespräsidenten zu lesen:
"Für die Freiheitsbewegung in der DDR waren das Grundgesetz und die Werte,
die es prägen, Antrieb und Ermutigung.
Die Würde des Menschen, die Freiheit der Person, die Freiheit des Glaubens und
des Bekenntnisses, die Rechtsstaatlichkeit und die sozialstaatlichen Selbstverpflichtungen, die im Grundgesetz festgeschrieben sind, hatten die Bundesrepublik
zum menschenfreundlichsten Staat werden lassen, den es je auf deutschem Boden
gegeben hat." (... )
Gustav Heinemann hat einmal vom Grundgesetz als einem großen Angebot gesprochen. Damit meinte er nicht, dass der Staat und seine Ordnung ein Supermarkt sei,
aus dem sich jeder nach seinen Bedürfnissen - oder sogar darüber hinaus - bedienen solle. Im Gegenteil: Das Angebot, das uns das Grundgesetz macht, ist eine Aufforderung, das Gemeinwesen aktiv mitzugestalten." (7)
Seitens der Politik wird in der Integrationsdebatte lediglich erwartet, dass man sich an das Grundgesetz halten müsse. Aktive Mitgestaltung des Gemeinwesens wird in praxi nicht ein eingefordert.
Für die Politik ist der Umgang mit der Vorstellungswelt des Islam nicht immer einfach. In der Außenpolitik muss zur Kenntnis genommen werden, dass von der Weltreligion des Islam bedeutende kulturelle und politische Ströme ausgehen. Fast ein Drittel aller Staaten der Welt ist islamisch geprägt. Der Mittlere Osten ist eine geografische Ansammlung muslimischer Völker und Staaten. Einige von ihnen sind einander feindlich gesinnt. Es gibt Kriege und Bürgerkriege. Der Mittlere Osten ist seit Jahrzehnten einer der schlimmsten Unruheherde der Welt und könnte auch zum Ausgangspunkt eines grundsätzlichen Zusammenpralls zwischen den islamischen und den westlichen Kulturen werden. Eine gefährliche Zündschnur könnte dabei die unberechenbare Nahostpolitik der gegenwärtigen US-Regierung sein.
Dem aufgeklärten Westen darf der Islam nicht weiter fremd, unbekannt und unverständlich bleiben. Um einen möglichen clash of civilizations zu vermeiden, muss der Westen ein tieferes Verständnis für die religiösen und philosophischen Grundlagen des Islam entwickeln und sich Einblicke in die Vorstellungswelt des Islam verschaffen. Man muss auch schärfer zwischen islamischem Fundamentalismus und islamistischem Terrorismus trennen.
Religiöse Toleranz zwischen den Weltreligionen und ihren Anhängern ist im 21. Jahrhundert wichtige Grundlage für das friedliche Zusammenleben in einer globalen Welt.
In der Innenpolitik geht es darum, das Grundgesetz umzusetzen und die Religionsfreiheit für alle zu garantieren.
Die Wertschätzung anderer Kulturen und Religionen kann nicht bedeuten, eigene Werte und Gesetze, für die lange gekämpft wurde, zur Disposition zu stellen.
Überdenken wir den Hinweis von Ch. Ude, Ex-Oberbürgermeister (SPD) von München:
"Mühsam errungene Freiheiten sollten verteidigt, nicht zugewanderten religiösen Fundamentalisten oder autoritären Haltungen geopfert werden. (...) Wir erwarten von der Politik, dass sie besser wird, nicht immer nur lauter, gifiger, spaltender, weltfremder. Also müssen wir sie alle gemeinsam besser machen. Also müssen wir uns einmischen. Jeder mit seinen Möglichkeiten."(8)
------------Quellenverzeichnis
(1) W. Beltz: "Sehnsucht nach dem Paradies. Mythologie des Korans", Buchverlag Der
Morgen, (Ost-)Berlin 1979, S. 7.
(2) R. Springer: "Spurwechsel. Wie Flüchtlingspolitik wirklich gelingt", Finanzbuchverlag,
München 2017, S. 119.
(3) W. Beltz, a. a. O., S. 23.
(4) Verfassung des Freistaates Sachsen vom 27. Mai 1992, Artikel 109.
(5) H. Buschkowsky: "Die andere Gesellschaft", Ullstein Buchverlag, Berlin 2014, S. 63.
(6) H. Schmidt: "Die Mächte der Zukunft. Gewinner und Verlierer in der Welt von morgen",
Siedler Verlag, München 2004, S. 167.
(7) Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Herausgeber: Deutscher Bundestag,
Berlin 2002, S. 5.
(8) Ch. Ude: "Die Alternative oder: Macht endlich Politik", Albrecht Knaus Verlag, München
2017, S. 235.
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